Den Punkt der Berührung finden

Die chinesische Bewegungskunst Tai Chi Chuan als Friedensarbeit im Gefängnis

von Thomas Luther-Mosebach



Tai Chi Chuan, die chinesische Bewegungskunst, angewandt als Friedensarbeit in einem deutschen Gefängnis? Da prallen nur scheinbar zwei Welten aufeinander. Thomas Luther-Mosebach, Diplompädagoge und Tai Chi-Lehrer, berichtet von seiner Arbeit in der Jugendstrafanstalt Rockenberg. Die differenzierte Auseinandersetzung, das Kennenlernen der eigenen Energien innerhalb des Tai Chi-Unterrichts, führten den jugendlichen Strafgefangenen Viktor zu der Erkenntnis: "Es gibt immer viele Wege, ich muss nicht gleich zuschlagen."

Chinesische Bewegungskunst in einem deutschen Gefängnis, paßt das zusammen? Betrachten wir das Tai Chi-Symbol, das Yin-Yang-Zeichen: Die Farben Weiß und Schwarz verkörpern das Konträre - gleichzeitig ist es das Symbol für Harmonie. Jede Seite ist in sich vollkommen und dadurch eigenständig. In der Mitte, im Herzen, ist ein Teil des anderen. Der Austausch erfolgt im Herzen, ist dieses doch unerschöpflich und hat gleichzeitig Raum für alles andere.

Es gibt wohl kaum einen Ort in der Gesellschaft, der stärker von Gegensätzlichkeit geprägt ist als das Gefängnis und sein Umfeld. Es ist geradezu ein Kristallisationspunkt und Spiegel für innergesellschaftliche bzw. innerpersönliche Widersprüchlichkeiten und Polarisierungen. Sowohl das Gefängnis, wie auch die Insassen fordern bei allen, die sich mit ihnen befassen, höchst konträre, zu Extremen tendierende Reaktionen heraus. Was für den einen ein finsterer Kerker ist, gilt beim anderen als bessere Jugendherberge, und was für den einen der böse Täter ist, ist für den anderen das unschuldige Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse. In diesem Spannungsfeld stehen wir in der Arbeit mit Straftätern täglich. So gesehen passt Tai Chi nicht besser oder schlechter ins Gefängnis, beziehungsweise in die Straffälligenarbeit, als überall sonst.

Was lehrt Tai Chi Chuan, die Tai Chi-Bewegungskunst?

"Es gibt immer viele Wege, ich muss nicht gleich zuschlagen." Dieser Satz stammt nicht aus dem Munde eines chinesischen Weisen, sondern von Viktor. Viktor ist 19 Jahre alt und verbüßt wegen Raub, Erpressung und Körperverletzung eine zweijährige Haftstrafe. Seine knappe Antwort auf die Frage eines Journalisten, was er denn beim Tai Chi-Unterricht in der Jugendstrafanstalt in Rockenberg gelernt habe, trifft das Wesentliche.

Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Lehren der Tai Chi-Bewegungskunst als Wegweiser zum Frieden in allen Lebenslagen. Ganz gleich ob es um offensichtliches Zuschlagen oder um subtilere Formen von Zwang und Stress gegen andere oder sich selbst geht. Tai Chi Chuan, der körperliche Ausdruck der Tai Chi-Philosophie, ist immer auch Entspannungskunst, ob wir es nun aus gesundheitlichen Gründen, als Meditation oder als Kampfkunst ausführen. Wir sprechen hier von innerer Kampfkunst. Sie beruht auf inneren Fähigkeiten, und letztlich auf der Fähigkeit des Nicht-Kämpfens, oder wie die Chinesen sagen auf "Wu Wei", absichtslosem Tun. Es gibt eine Fülle von tiefgehenden und zugleich spaßvollen Übungen und Partnerspielen, die ein umfassendes Achtsamkeits- und Interaktionstraining darstellen, ohne daß dabei eigentliche Kampftechniken ins Spiel kommen müssen.

Verwurzeln und Entwurzeln

Das Ausmaß von "Wu Wei", das Viktor in kurzer Zeit verwirklicht hatte, ist erstaunlich. Dabei sah es zuerst gar nicht danach aus: Gleich, nachdem er das Tai Chi Chuan in der Rockenberger Aufnahmeabteilung kennengelernt hatte, meldete er sich zu einer der wöchentlichen Gruppen an. Dort war er mit seiner provozierenden Art ein ziemlicher Unruhefaktor. Die Übungen selbst interessierten ihn aber.

Wir beginnen mit den sanften, fließenden Solo-Bewegungen des Tai Chi Chuan, die auch als "Schattenboxen" bekannt sind. In den später folgenden Partnerübungen erproben wir das Verwurzeln, um auch bei starkem Druck fest und entspannt zu stehen. Wir üben das Nachgeben, um im Geschehen beweglich zu sein - geschmeidig wie eine Katze, und mit Gewahrsein nach innen und nach außen zu gehen, um schließlich das mühelose Zusammenspiel innerer und äußerer Kräfte bei der Aktion des Entwurzelns zu probieren. Entwurzeln bedeutet, jemand ohne Gewalt und jegliche Härte aus dem Gleichgewicht zu bringen - dort wo er Härte und Unbeweglichkeit zeigt.

Immer wieder geht es im Tai Chi-Partnerspiel um diesen Punkt der Berührung, wo ich den anderen fliegen lassen kann. Das ist für ihn genauso spaßvoll und angenehm wie für mich, denn ich benutze dazu eben keine rohe Muskelkraft. Das Erlebnis ist in der Essenz für beide das Gleiche, so als wenn zwei Bälle zusammenstoßen und nichts als ihr Ballsein erleben. Das Entwurzeln hat tatsächlich diese spielerische (balltrumpfende) Qualität - Absichtsloses Tun. So ist es nebenbei ein unwiderstehlicher Gemütsaufheller bei Schülern, die bedrückt oder gestreßt im Tai Chi-Unterricht auftauchen. Spätestens beim dritten ,Push' liften sich zumindest die Mundwinkel.

So, ohne Anspannung und Muskeleinsatz, mühelos in dem manchmal engen, manchmal rasanten Tai Chi-Geschehen zu funktionieren und erfolgreich zu sein, bedarf genauer Schulung in den Grundprinzipien des Tai Chi Chuan: Entspannung, Zentrierung / In-der-Mitte-ruhen, Verwurzelung / Bodenkontakt, Eins- und Totalsein / Raumerfahrung.

Viktor hatte es besonders in den Partnerübungen schwer. Bei kleinen Unstimmigkeiten wählte er schnell den provokativen Weg und körperliche Anmache. Er konnte sich schlecht mit Worten auseinandersetzen. Das ist bei Gewalttätern manchmal der Fall. Die eigenen Gewalterfahrungen haben ihnen die Sprache verschlagen und scheinbar nur den einen Weg der körperlichen Gewalt offengelassen. Viktor gab sich aber beim Tai Chi Mühe. Das ist ebenfalls nicht ungewöhnlich bei Gewalttätern. Sie haben einen guten Zugang zu den körperlichen Übungen des Tai Chi und erleben sich hier schnell als kompetent.

Außerhalb des Tai Chi-Unterrichts machte Viktor jedoch weiter wie bisher. Immer mehr seiner Mitgefangenen bekamen Angst vor ihm und so wurde auch die Tai Chi-Gruppe immer kleiner. Bis ich ihn nicht mehr zum Unterricht holte. Als er etwa drei Monate später als "untragbar" von seiner Wohngruppe in ein anderes Haus verwiesen wurde, sah ich die Gelegenheit für einen Neuanfang. Ich bot ihm Einzelunterricht an, in welchem ich die früheren Übungen aus dem Gruppenunterricht wieder aufgriff, u. a. auch das Entwurzeln. Und dann passierte etwas sehr Schönes: Er entwurzelte mich trotz der langen Übungspause mit solcher Feinfühligkeit, daß mir das Herz aufging.

Es ist immer wieder ein überraschendes Erlebnis, so ohne harte Krafteinwirkung durch den Raum katapultiert zu werden. Es geht gegen unsere normale Erfahrung von Kraftausübung und gegen unsere Konditionierungen von bewegen und bewegt werden. Normalerweise, wenn ich jemanden, der mir gegenüber steht, wegschubsen will, benutze ich die Muskelkraft meiner Arme. Das kennt jeder. Dies ist eine sehr isolierte und zugleich harte Aktion, die schnell zu Aufregung und Feindseligkeit führt.

Tai Chi-Zustand

Will ich hingegen die Vision des Tai Chi-Zustandes ernst nehmen und möglichst einfach, also mit wenig Stress, Anstrengung und Gewalt effektiv sein, dann muß ich mich mehr einlassen. Ich gehe ökologisch vor, das heißt, ich bejahe und nutze alle Kräfte der gegebenen Situation. Ich fühle mich ein - in mich selbst, in die Erde (der größten verfügbaren Kraft), in die Person gegenüber. Wie steht sie? Wo ist sie angespannt? Wo ist ihr Zentrum, wohin geht ihre Balance? In welcher Richtung kann ich sie am leichtesten bewegen? usw.

Ich lerne, mich selbst differenzierter zu verhalten und zugleich den anderen differenzierter wahrzunehmen. Ich vereinige mich mit der ganzen Situation, werde ein Teilhaber aller Kräfte und Informationen. Neue Unterscheidungen entwickeln sich in meinem Körper, in meinem Geist und die Fähigkeit, die gegebenen Kräfte miteinander zu einer mühelosen Aktion zu vernetzen. Das ist Bewußtseinsschulung. In dem ich mich der größeren Intelligenz des ganzen Geschehens, seinen vielen Spielmöglichkeiten und seinen unvorhergesehenen Wendungen praktisch öffnen kann, werde ich selbst intelligenter. Ein erneuertes Gefühl von Würde und Würdigung breitet sich aus. Dies ist auch die sicherste Gewaltvorbeugung. In befriedigendem Kontakt und in bereichernder Interaktion löst sich Aggressivität, der Überschuss an nicht gelebter, verhinderter Aggression, von selbst auf.

Ich weiß nicht, ob mich jemand so sanft hat fliegen lassen wie Viktor. Und das habe ich nun gerade von diesem ungehobelten Typ nicht erwartet. "Sie können wirklich etwas bewegen ohne Gewalt", entfährt es mir. Der Satz sitzt, merke ich, merken wir beide. Hier ist etwas besonderes angerührt. Da ist noch einmal dieses besondere, durchströmende Gefühl, wie eben beim Entwurzeln. Hier ist der Punkt der Wahrheit, jener Punkt der Berührung - da wo etwas fließt, gewaltlos und frei bewegt wird, weil es getroffen wurde. Das Gefühl in der Tai Chi-Interaktion ist ganz ähnlich, wie im Gespräch, wenn die Worte berühren. Beide Beteiligten wissen es.

Sanft und gewalttätig - Yin und Yang

Weitere Übungen bestätigten Viktors neu entdeckte Fähigkeiten. Er konnte zum ersten Mal einen scheinbar unausweichlich auf eine Schlägerei hinauslaufenden Konflikt befrieden. Da stand er nun, der sanfte Viktor. Wie sollten sie miteinander kommen, der sanfte und der gewalttätige Viktor? Yin und Yang? Es gab eine Krise. Der gewalttätige Viktor funktionierte nicht mehr und der sanfte war ja gerade erst sanft erwacht.

Die Übungen und Gespräche zielten auf Balance, Stärkung der Mitte und immer wieder darauf ab, beide Seiten im Blick zu halten und darauf zu vertrauen, daß sie sich miteinander einrichten. Nichts schien unmöglicher. Viktor zog sich zurück. Der starke Viktor, vor dem alle Angst hatten, fiel ins andere Extrem. Er traute sich mehrere Wochen nicht aus seinem Haftraum heraus. Er konnte nur am Fenster sprechend mit anderen in Kontakt bleiben. Und siehe da, sein altes Sprachproblem verschwand zunehmend. Ein typischer Vorgang: Gewalttätigkeit geht, wie gesagt, oft mit einer gewissen Sprachlosigkeit einher. Wer in seinem körperlichen Verhalten differenzierter wird und Gewalttätigkeit transzendiert, lernt nach und nach sich auch sprachlich differenzierter zu äußern.

Manchmal zeigen sich in so einem Tai Chi-Erfahrungs- und Beratungsprozess alte, behindernde Erfahrungen mit Gewalt sehr deutlich: Yussuf, auch Gewalttäter, der von seinem Vater misshandelt worden war, fing plötzlich, mitten im Prozess, zu stottern an. Da war das kleine Kind, dem der Vater die Sprache verschlagen hatte. Dieses verletzte innere Kind musste von ihm angenommen, gehegt und gepflegt werden. Nach drei Wochen verschwand das Stottern wieder. In der vergleichsweise harten Lebenswelt des Gefängnisses sind solche Krisen besonders schwere Prüfungen.

Ebenso für Viktor, der sich erst schwach und wehrlos fühlte, weil er seinen "Hass" nicht mehr hatte. Es dauerte eine Weile bis die beiden Seiten sich gegenseitig einpendelten, und er eine neue Mitte fand, in der er weder ohnmächtiges Opfer noch übermächtiger Täter sein musste.

Er lernte auf neue Art, etwas in seinem Leben zu bewegen. Mir fällt besonders auf, wie er jetzt die Probleme seiner Mitgefangenen wahrnimmt. Er versucht ihnen zu helfen, redet mit ihnen und bringt so manchen zum Tai Chi-Unterricht mit.

Den Weg des Herzens gehen - die Geschichte von Luka

"Ich glaube mein Herz verarscht mich", stöhnt Luka nach einigen Aufwärmübungen in seiner fünften Tai Chi-Einzelstunde. "Mal sticht es und mal wieder nicht." Luka , der "freundliche Bankräuber", so genannt, weil er bei seinen Banküberfällen immer von ausgesuchter Freundlichkeit zu denen war, die er mit der Waffe bedrohte.

Das allerdings berichtet er mir erst im späteren Gespräch. In diesem Moment jedoch ist mir blitzartig klar: Sein Herz kann ihn schwerlich verarschen, es ist genau umgekehrt, er verarscht sein Herz. Ich spüre wieder den Punkt der Berührung. In diesem Fall der Punkt, der hinter Lukas immer gleichbleibend freundlich - leistungsbereite Fassade führt. Hier hat er bisher niemanden dran rühren lassen. Deshalb gibt es zu Recht Probleme mit der Genehmigung von Vollzugslockerungen, wie Ausgang, Urlaub und schließlich vorzeitiger Entlassung. Seine Fassade ist dabei natürlich nicht nur Fassade - eher Facette.

Luka ist beides: Der, der die Menschen liebt und der, der die Menschen zu Tode ängstigt. Weiß und Schwarz. Yin und Yang. Diese beiden gilt es in gute Kommunikation zu bringen, zu gegenseitigem Verständnis und neuem Arrangement.

Ein guter Anfang ist gemacht. Sein Herz drückt sein Gespaltensein deutlich aus - und er selbst ja eigentlich auch. Nur ist es eben genau umgekehrt: Natürlich verarscht, oder besser gesagt, ignoriert er sein Herz, wenn er Menschen bedroht und diese Angst vor ihm haben, ist er doch im Grunde seines Herzens ein liebevoller Mensch.

Schon in der ersten Einzelstunde hat er von den gelegentlichen Herzschmerzen berichtet. Ich merkte, er will was, er ist erreichbar. Allerdings habe ich das Thema erst einmal zurückgestellt im Vertrauen darauf, daß es im Tai Chi-Prozess reifer werden und zur rechten Zeit an die Oberfläche kommen wird. Tai Chi Chuan ist Lösung und Aufbau - und freie Bewegung, die zu gegebener Zeit und auf sanfte Weise das an die Oberfläche holt, was dem Fluß des Lebens entgegenwirkt. Indirekt habe ich seinem Thema ,Herzschmerz' innerlich und mit entsprechenden Übungen Raum gegeben. - Tai Chi ist herzstärkend.

Lösung, Aufbau, freie Bewegung, Herzstärkung?

Schon der einfache Tai Chi -Stand zeigt dieses Wechselspiel von Lösung und Aufbau. Mit leicht angewinkelten Knien zu stehen, ist so entspannend wie im Sessel zu sitzen. Spannung, Streß, innerer Druck und Aufregung werden losgelassen. Kopf und Oberkörper, Herz, Lunge, alle Organe werden frei. Ich rege mich ab. Sinke innerlich in meine Mitte im Unterbauch. "Er ruht in seiner Mitte", wie es im Volksmund heißt. Daß ich viel Druck loslasse, merke ich in den Beinen, die auf Grund der ungewohnten Last langsam anfangen zu schmerzen und zu zittern. Manchmal zieht es auch in den Schultern oder anderen Körperstellen, die noch nicht loslassen können.

Luka versteht diesen Prozeß schnell. Er merkt, daß er sich mehr und mehr von der Erde tragen lassen kann, wenn er bereit ist, sich selbst zu tragen. Luka erlebt, wie aus dem Loslassen und Sinken eine neue Begegnung mit der festen, aufbauenden Kraft der Erde entsteht. Diese Kraft findet Platz in ihm aufzusteigen. Sie bewirkt mühelosere Aufrichtung und verleiht ihm eine klarere Körperstruktur.

So getragen, fällt es Luka wiederum leichter, selbst mehr zu tragen. Jetzt kommen die Arme ins Spiel, und damit das Herzzentrum, aus dem die Arme herausreichen. Sie liegen jetzt viel leichter, von innen heraus getragen, in der Luft und können freier hinausreichen - und sich "ein Herz nehmen". Luka wird mutiger. Beim ersten Mal im Chigong-"Balltragen"-Stand, mit rund erhobenen Armen, bleibt er gleich 15 Minuten stehen. Das ist ungewöhnlich lange. Er will seine Sachen austragen. Seinen Stand zu finden, erweist sich in unserem Bewegungs- und Gesprächsprozess als vorrangige Aufgabe für Luka. Es stellt sich heraus, dass es bei den Banküberfällen nicht nur um Geld, sondern vorrangig um Anerkennung im Kreis der Gleichaltrigen ging. Er konnte nicht nur nicht Nein-sagen, sondern meinte, sich darüber hinaus mit den Banküberfällen noch als besonderer Held beweisen zu müssen. - Die Unterdrückung des Herzens für Freundschaft. Immer gleichbleibende Freundlichkeit für Anerkennung - Kein Wunder, daß sich da das Herz verarscht fühlt und sich sowas nicht gefallen lässt.

Zu-sich-stehen, Sich-abgrenzen, Nein-sagen sind die naheliegenden Aufgaben. - Nein-Sagen körperlich und handfest geübt im Tai Chi-Unterricht sowie im Umgang mit anderen und besonders mit den Freunden in der Wohngruppe.

Nein-sagen-können beruht auf Ja-sagen zu sich selbst, um selbstbewusster in Beziehungen hineinzugehen, ohne sich selbst oder dem anderen Zwang aufzuerlegen. In unserer Ta Chii-Schulung lernen wir, bejahend mit einer Kraft zu gehen, wie auch bejahend ihr standzuhalten. Nein-sagen wird zu einer entspannten Angelegenheit. Es ist ein tolles, stabilisierendes Gefühl, wenn einer sich abmüht, mich zu bewegen, und ich mittels korrekter Tai Chi- und dazu gehöriger Geisteshaltung vollkommen mühelos ohne jede Gegenkraft meinen Stand wahre.

Pushing Hands

Mit dieser gewachsenen Fähigkeit geht Luka in andere konfrontative, manchmal rauhe Übungen hinein: Er übt mit der gleichen Entspanntheit zu rempeln, jemanden zu schmeißen und selbst geschmissen zu werden, fallen und rollen, sowie das stehende "Pushing Hands", zu deutsch "Schiebende Hände". Hier geht es darum, wer den anderen zuerst vom Fleck bewegen kann, indem er gefühlvoll, wendig und standfest mit Druck und Widerstand umgeht. Kampfkunst, der soziale Aspekt des Tai Chi Chuan, wird hier zu Kommunikations- und Verhaltensschulung auf körperlicher Ebene.

Als Kontrapunkt zu den rauheren Übungen praktizieren wir das besonders feine und kreative, dynamische "Pushing Hands", ein von dem amerikanischen Kampfkunst-Meister Peter Ralston entwickeltes Partnerspiel mit Elementen aus innerer Kampfkunst und Aikido. Katzenartig, fast tänzerisch, bewegen wir uns miteinander durch den Raum. Wie Wasser. Immer gebe ich nach, biete keinen harten Punkt und baue dabei Strömungen, Mäander, Strudel, Sog und Wellen auf, um jede Härte, Unaufmerksamkeit und Unbeweglichkeit des anderen direkt in sein Entwurzeln münden zu lassen. Ausweichen und Rangehen sind hier eins, Yin und Yang in ständiger zyklischer Bewegung.

In diesem vielseitigen Prozess lernt Luka seine beweglichen und unbeweglichen Seiten, bzw. verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit kennen, eben auch die, die anderen Angst machen können. Diese hatte er so sehr abgespalten, daß er gar nicht verstehen konnte, warum die Menschen bei seinen Überfällen Angst vor ihm hatten, vor ihm, dem ach so freundlichen Luka. Schließlich kommt der mit Spannung erwartete erste, unbegleitete Ausgang, bei dem er alte Freunde trifft. Nach seiner Rückkehr begrüßt er mich mit einer verblüffenden Selbsteinschätzung: "Wissen Sie, es ist gut, dass ich noch nicht entlassen werde, mit dem Nein-Sagen geht das doch noch nicht gut genug."

Nach vielen Jahren in der Straffälligenarbeit verstehe ich ihn nur zu gut. Meistens endet es eben genau in den alten Bahnen, wenn der entlassene Jugendliche in die alte Umgebung zurückkehrt. Luka aber gibt uns Strafvollzugsarbeitern, die wir ja alle, vom Aufsichtsbediensteten bis zum Pfarrer, an seinen Prozessen teilgenommen haben, ein eher seltenes Erfolgserlebnis. Er bleibt am Ball, nutzt alle für ihn förderlichen Angebote in der Anstalt, und von Ausgang zu Ausgang fühlt er sich sicherer. Bis er schließlich zu einem mehrtägigen Urlaub nach Hause geht um Arbeit zu suchen. Seine alten Kumpels bieten ihm gleich ihre Hilfe an. "Komm wir fahren Dich hin." "Nein", sagt Luka, "keiner von Euch hat einen Führerschein." Er läßt sich nicht mehr überreden und bringt dabei seinen Standpunkt so klar und ruhig rüber, daß die Freunde sich nicht entrüstet abwenden. Sie wollen ihm sogar trotzdem helfen und fahren mit dem Auto neben der Straßenbahn her. Luka ist glücklich. Er kann jetzt Freundschaft mehr und mehr gestalten. Er hatte es nie lernen können, da seine überbesorgten Eltern ihn bis zu seinem zehnten Lebensjahr nach der Schule nicht aus dem Haus gehen ließen. Seine Isolation löst sich. Er wechselt vom Gefängnis in das Freigängerhaus ohne Gitter. Zunehmend kann er jetzt selbst die Punkte der Berührung bestimmen und auf eigenen Füßen stehen. Sein Herz hat ihm den Weg gezeigt.

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